Mitten hinein in die traditionelle Hochsaison der City-Marathonläufe hat der europäische Leichtathletik-Verband „European Athletics“ die Premiere der Straßenlauf-Europameisterschaften gelegt. Am Sonnabend und Sonntag finden diese Titelkämpfe mit Rennen über 10 km sowie die Halbmarathon- und Marathon-Distanzen in Brüssel und Leuven statt.
Die neue EM löst bei Athleten und Laufsport-Funktionären und -Veranstaltern offensichtlich keine oder nur begrenzte Begeisterung aus. Das zeigt sich auch darin, dass diese Europameisterschaften erschreckend schwach besetzt sind. Viele europäische Topläufer fehlen in Belgien. Sie starten im April verständlicherweise lieber bei den lukrativen und schnellen City-Rennen.
Besonders gilt dies für den Marathon, der ein Höhepunkt der kontinentalen Titelkämpfe im Sommer war – auch weil Zuschauer in großen Zahlen ohne Eintritt an der Strecke dabei sein konnten. Den Klassiker hat „European Athletics“ nun aus dem traditionellen EM-Programm ausgegliedert, er findet dort nicht mehr statt. Damit dürfte der Verband nicht nur die eigenen Titelkämpfe im Sommer geschwächt haben sondern auch den Wert des Titels eines Marathon-Europameisters.
Die traditionellen April-Marathonrennen räumen das Feld nicht für die neuen Meisterschaften von „European Athletics“. Ausgerechnet die beiden räumlich zu Brüssel nächstgelegenen großen April-Klassiker finden ebenfalls an diesem Sonntag statt: der Rotterdam- und der Paris-Marathon. Die hochklassigeren Leistungen sind ebenso in Paris und Rotterdam zu erwarten wie die größeren Felder (bei der EM dürfen auch Breitensportler starten). Hinzu kommt noch, dass die Strecken in Paris und Rotterdam in jeglicher Hinsicht rekord-konform sind, was beim EM-Marathon auch noch nicht einmal der Fall ist. Denn gelaufen wird in Belgien von Brüssel nach Leuven, so dass es sich um eine Punkt-zu-Punkt-Strecke handelt. Die Rennen über 10 km und die Halbmarathon-Distanz finden dagegen allerdings auf Rundstrecken in Leuven statt.
Marathon: Favoriten kommen aus Israel
Irgendwie passt es zu dieser EM-Situation, dass die großen Favoriten im Marathon aus Israel kommen – einem Land, das geographisch nicht zu Europa gehört sondern nur sportpolitisch. Während die EM zu diesem Zeitpunkt für Richard Ringer kein Thema war und der noch amtierende Marathon-Europameister von München 2022 Ende des Monats in Hamburg Marathon laufen wird, ist der vor drei Jahren hinter ihm zweitplatzierte Maru Teferi (Israel) am Sonntag als Favorit anzusehen. Der aus Äthiopien stammende Läufer hat eine Bestzeit von 2:04:44 Stunden. Nur ein paar Sekunden langsamer ist der persönliche Rekord seines Landsmannes Gashau Ayale (2:04:53), der in München 2022 die Bronzemedaille gewonnen hatte. Der schnellste Läufer auf der Startliste ist der Türke Kaan Kigen Özbilen, dessen persönlicher Rekord bei 2:04:16 steht. Allerdings kam er in den letzten Jahren nicht mehr an diesen Zeitbereich heran. Zu beachten sein wird der Franzose Nicolas Navarro (Bestzeit: 2:05:53).
Bei den Frauen führt die ursprünglich aus Kenia stammende Lonah Chemtai Salpeter (Israel) die Startliste mit einer Bestzeit von 2:17:45 an. Damit ist sie zurzeit noch die drittschnellste Europäerin aller Zeiten und die Frau, die es in Belgien zu schlagen gilt. Bei der WM 2022 hatte sie die Bronzemedaille im Marathon gewonnen. Die spanische Marathon-Rekordlerin Majida Maayouf (2:21:01) könnte eine gute Rolle spielen. Bei den Frauen stehen nur 27 Läuferinnen auf der Startliste. Und von ihnen sind gleich 12 noch nicht einmal unter 2:30:00 gelaufen.
Deutsche Läufer sind in Belgien über die Marathondistanz nicht am Start.
Halbmarathon: Esther Pfeiffer mit Chancen
Esther Pfeiffer (Düsseldorf Athletics) steigerte sich am vergangenen Sonntag in Berlin über die Halbmarathon-Distanz auf 69:15 Minuten und war damit die beste deutsche Läuferin. Nur sechs Tage später startet sie nun auch bei der EM und ist dort sogar die Nummer zwei auf der nach persönlichen Bestzeiten sortierten Startliste. Angeführt wird diese Liste von der Holländerin Diane van Es, die sich im März in New York auf 68:03 Minuten verbesserte. Es ist aber noch nicht klar, ob die Holländerin am Wochenende über 10 km oder im Halbmarathon antreten wird. Dass insgesamt nur drei Athletinnen auf der Startliste stehen, die bisher unter 70:00 Minuten gelaufen sind, ist ein schwaches Bild für eine solche kontinentale Meisterschaft. Neben Esther Pfeiffer und Diane van Es geht die Belgierin Juliette Thomas mit einer solchen PB ins Rennen (69:48).
Bei den Männern zählen am Sonnabend der Spanier Carlos Mayo, der mit einer Bestzeit von 59:39 ins Rennen geht, und Jimmy Gressier zu den Favoriten. Der Franzose erreichte bisher 59:46. Er lief in diesem Jahr schon einen 5-km-Europarekord (12:57).
Beide Titelverteidiger – der Italiener Yemaneberhan Crippa und die Norwegerin Karoline Grovdal – fehlen in Belgien.
10 km: Nadia Battocletti und Dominic Lobalu favorisiert
Nadia Battocletti ist der einzige europäische Laufstar, der in Belgien startet. Die Italienerin ist am Sonntag die Favoritin über die 10-km-Distanz. Sie hatte bei der EM in Rom vor knapp einem Jahr die 5.000 und 10.000 m gewonnen, war dann bei Olympia sensationell Zweite über 10.000 m und siegte im Dezember bei der Cross-EM. Nun könnte sie einen weiteren EM-Titel gewinnen. Die Slowenin Klara Lukan und – sofern sie startet – die Holländerin Diane van Es könnten die Italienerin vielleicht herausfordern, wenn Battocletti einen schlechten Tag hat. Mit Elena Burkard (LG farbtex Nordschwarzwald), Eva Dieterich (LAV Stadtwerke Tübingen) und Lisa Merkel (LAV Stadtwerke Tübingen) gehen hier drei deutsche Läuferinnen an den Start.
Auch der 10.000-m-Europameister von Rom startet in Leuven: Dominic Lobalu (Schweiz) trifft über 10 km unter anderen auf den Franzosen Yann Schrub, der über 5 km in diesem Jahr bereits starke 13:00 gelaufen ist. Auch im Männerrennen sind drei deutsche Läufer dabei: Davor Aaron Bienenfeld (Düsseldorf Athletics), Johannes Motschmann (Marathon Team / SCC Berlin) und Nils Voigt (TV Wattenscheid 01).
Text: Jörg Wenig
Foto: Sailer / photorun.net