Vorschau auf die Olympischen Spiele in Paris (Teil 5): Marathon
Am 1. August beginnen bei den Olympischen Spielen in Paris die Leichtathletik-Wettbewerbe. In dieser Vorschau geht es um die Marathonrennen der Männer und Frauen.
Das Rennen der Männer
- August, 8.00 Uhr
Kann Eliud Kipchoge ein weiteres Kapitel olympische Leichtathletik-Geschichte schreiben und für ein Novum sorgen? Keinem Läufer ist es bisher gelungen, dreimal den Olympia-Marathon zu gewinnen. Der Kenianer triumphierte 2016 in Rio und 2021 im japanischen Sapporo souverän. Damit ist er neben Abebe Bikila (Äthiopien/1960 und 1964) und Waldemar Cierpinski, der im Trikot der DDR 1976 und 1980 triumphierte, der einzige Läufer, der das olympische Rennen über die 42,195 km zweimal gewonnen hat.
Doch auf dem Weg zu einem möglichen dritten Olympia-Sieg wirkte der 37-jährige Eliud Kipchoge zuletzt nicht mehr so stark wie noch einige Jahre zuvor. 2019 hatte er in einem nicht rekord-konformen Rennen in Wien sogar die Zwei-Stunden-Barriere durchbrochen (1:59:40,2). Im vergangenen Jahr verlor Eliud Kipchoge seinen Weltrekord an seinen Landsmann Kelvin Kiptum, der 2:00:35 Stunden lief. Kelvin Kiptum wäre als Favorit in Paris an den Start gegangen, doch er verstarb bei einem tragischen Autounfall in Kenia im Februar.
Auch ohne Kelvin Kiptum ist Eliud Kipchoge aber nicht mehr in der Position des Topfavoriten. Er gehört zu einer Gruppe von Athleten, die auf der schwierigen, hügeligen Strecke um die prestigeträchtige Goldmedaille kämpfen werden. Sehr stark präsentierte sich zuletzt Sisay Lemma. Der Äthiopier gewann im April den hügeligen Boston-Marathon im Alleingang. Während eine wellige Strecke für Lemma kein Problem zu sein scheint – Kipchoge kam in Boston 2023 nicht zurecht – ist die Frage, wie sich der Äthiopier in einem möglichen Hitzerennen schlägt. Vor drei Jahren kam er beim heißen olympischen Rennen in Sapporo nicht ins Ziel. Bei sehr hohen Temperaturen lief Victor Kiplangat vor einem Jahr zum WM-Triumph in Budapest. Der Athlet aus Uganda, der auch schon auf der am Ende stark ansteigenden Strecke des Istanbul-Marathons gewann, wird ebenso zu beachten sein wie Benson Kipruto (Kenia). Es wäre eine große Überraschung, sollte Kenenisa Bekele (Äthiopien) in den Kampf um die Medaillen eingreifen können. Der dreifache Bahn-Langstrecken-Olympiasieger ist inzwischen 41 Jahre alt.
Überraschungen sind in den olympischen Marathonrennen allerdings überhaupt keine Seltenheit. In Japan lief vor drei Jahren der Holländer Abdi Nageeye zur Silber- und der Belgier Bashir Abdi zur Bronzemedaille. Beide sind auch in Paris am Start. Auch Marathon-Europameister haben in der Vergangenheit olympische Medaillen über die klassische Distanz gewonnen. Richard Ringer (LC Rehlingen) wird in Frankreich als kontinentaler Champion starten. Zuletzt zeigte er zwar keine Topform (28. Platz bei der Halbmarathon-EM), doch der Fokus lag eindeutig auf den Olympischen Spielen. Sehr stark einzuschätzen ist Amanal Petros (SCC Berlin), der zur europäischen Marathon-Spitze gehört und bei der Halbmarathon-EM im Juni als Dritter ein starkes Rennen zeigte. Er kann einer jener Athleten sein, die in Paris für eine Überraschung sorgen. Eine starke Entwicklung hat zuletzt auch Samuel Fitwi (Silvesterlauf Trier) gemacht. Wenn er mit möglicher Hitze zurecht kommt, ist ihm eine sehr gute Platzierung zuzutrauen.
Das Rennen der Frauen
- August, 8.00 Uhr
Auch bei den Frauen kann eine Läuferin aus Kenia Geschichte schreiben: Peres Jepchirchir geht als Titelverteidigerin an den Start und könnte als erste Athletin in der Leichtathletik-Historie einen zweiten olympischen Marathon gewinnen. Für die Frauen steht der Marathon allerdings auch erst seit 1984 auf dem Programm. Die 30-jährige Olympiasiegerin ist vielleicht die Top-Favoritin in Paris.
Im April gewann Peres Jepchirchir den London-Marathon mit einer Steigerung auf 2:16:16 Stunden und stellte damit einen „Women Only-Weltrekord“ auf (Rekord für reine Frauen-Rennen, ohne männliche Tempomacher). Jepchirchir, die in den vergangenen Jahren auch in Boston und New York triumphiert hatte und damit zeigte, dass sie auch im hügeligen Terrain stark ist, verwies in London die Weltrekordlerin Tigst Assefa (2:11:53) hinter sich. Die Äthiopierin war im Winter allerdings zeitweise verletzt, so dass sie vielleicht in London noch nicht wieder in Bestform war. Sie gehört in Paris ebenso wie die Weltmeisterin Amane Shankule (Äthiopien) und Hellen Obiri zu den Topfavoritinnen. Die Kenianerin gewann im April den Boston-Marathon. Assefa und Obiri sind aber noch keinen Meisterschafts-Marathon im Hochsommer gelaufen. Dies würde auch für Sifan Hassan (Niederlande) gelten, die noch nicht bekannt gegeben hat, ob sie in Paris im Marathon antreten wird. Mit ihrem Europarekord in Chicago (2:13:44) im vergangenen Herbst ist Hassan die zweitschnellste Marathonläuferin aller Zeiten.
Melat Kejeta (Laufteam Kassel) lief in Sapporo beim olympischen Marathon vor drei Jahren auf einen sehr starken sechsten Platz. „Mein Ziel, auf das ich mich wirklich konzentrieren möchte, ist, unter die ersten Zehn zu kommen – aber mein Traum ist es, eine Medaille für mich und für Deutschland zu gewinnen“, sagt Melat Kejeta, die sich hauptsächlich in Äthiopien auf den Olympia-Marathon vorbereitet hat. Aufgrund starker Regenfälle in Addis Abeba in der letzten Zeit ist Melat Kejeta vor rund zwei Wochen nach St. Moritz gereist, um dort die finalen Trainingseinheiten zu absolvieren. „Hier kann ich mich auch ein bisschen besser auf die Hitze vorbereiten“, sagt Melat Kejeta, die im Juni Rang fünf im Halbmarathon bei den Europameisterschaften in Rom belegt hatte. Ein Platz unter den Top 12 im olympischen Marathon wäre angesichts der starken Konkurrenz ein Erfolg für Melat Kejeta.
Mit ihrer persönlichen Bestzeit von 2:21:47, die sie im Januar in Dubai lief, ist Melat Kejeta vor Olympia die zweitschnellste europäische Läuferin des Jahres. Schon unmittelbar hinter ihr liegt in dieser Liste Dominika Mayer auf Rang drei (2:23:50). Die Läuferin der LG Telis Finanz Regensburg ist im Marathon immer wieder für eine Überraschung gut. Mit ihrer Bestzeit von 2:23:47 steht sie auf Rang 38 unter den für Paris qualifizierten Athletinnen, doch ihr ist eine deutlich bessere Platzierung zuzutrauen. Vor wenigen Tagen bewies sie gute Form: In Berlin verbesserte sie sich als Zweite über 10 km auf 31:43 Minuten und ist damit die siebtschnellste deutsche Läuferin aller Zeiten über diese Distanz. Bei der EM in Rom hatte sie im Halbmarathon als Elfte überzeugt. Nicht einzuschätzen ist die Form von Laura Hottenrott (PSV Grün-Weiß Kassel). Mit einer überraschenden Steigerung auf 2:24:32 in Valencia im vergangenen Dezember qualifizierte sie sich letztlich knapp als dritte deutsche Läuferin für den olympischen Marathon. Seitdem ist Laura Hottenrott bei keinem einzigen Rennen mehr an den Start gegangen.
Text: Jörg Wenig / Race News Service
Fotos: Victah Sailer / photorun.net