9. Dezember 2019 | Marathon-News

Der Marathon von hinten betrachtet

Josef Kiesl steuert seit Jahren den Besenwagen – in dem Job kann man was erleben

 

Das Wetter hat umgeschlagen. Regen und nasse Straßen fordern das Durchhaltevermögen der Läufer noch extra heraus. Hier und da bilden sich die ersten Pfützen. Am hintersten Ende der riesigen Marathon-Menschenkette, die sich kilometerlang durch die Straßen Frankfurts zieht, wird es besonders ungemütlich. Wenn am Tag X nicht alles so läuft, wie geplant. Wenn man hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibt. Wenn man sich plötzlich ganz am Ende des Feldes wiederfindet und man nicht mehr schnell genug vorankommt, vielleicht sogar kilometerlang nur gehen kann. Dann kann es sein, dass man irgendwann Josef Kiesl begegnet. Josef steuert einen weißen BMW, ihm folgen noch zwei weitere Autos derselben Bauart in gemächlichem Tempo, fast geräuschlos. Sie bilden das Ende des Mainova Frankfurt Marathons und sind allgemein als Besenwagen bekannt. Sie kehren natürlich niemanden von der Strecke, sondern nehmen sie auf dem warmen Rücksitz auf. Jeden, der nicht mehr aus eigener Kraft schnell genug weiterkann.

 

Was bedeutet schnell genug? „Ich habe einen auf die Sekunde genau geplanten Fahrplan, den ich einhalten muss, damit ich zum Torschluss die Festhalle erreiche“, erklärt Kiesl seine Aufgabe. „Sobald ein Läufer da nicht mehr mithalten kann und ich ihn überhole, muss ich ihm freundlich, aber bestimmt erklären, dass das Rennen hier nun leider vorbei ist.“

 

Eine unangenehme Aufgabe? „Natürlich reagieren einige nicht begeistert, trotzdem sind die wenigsten besonders ungehalten darüber. Sie haben ja meistens schon mal einen Blick zurückgeworfen und mich wahrgenommen.“ Josef sagt das mit viel Empathie. Er ist selbst schon mehrmals Marathon gelaufen. „Mittlerweile kann ich nicht mehr selbst ran, da mein Knie Probleme macht. Aber mit dieser Aufgabe bleibe ich dem Marathon verbunden“, sagt er und fügt hinzu: „Natürlich darf jeder Läufer, den ich eingeholt habe, die Strecke trotzdem zu Ende laufen. Allerdings muss er dann auf den Bürgersteig und sich an die ganz normale Straßenverkehrsordnung halten.“

 

Ob manch einer schon die zweite Luft bekommen hat, wenn er registriert, dass der Traum vom Zieleinlauf in die Festhalle in Gefahr ist? „Manch einer hat mich schon wieder zurücküberholt und es nochmal probiert.“

Josef spricht ruhig während er den Wagen steuert. Er strahlt Gelassenheit aus, macht seine Aufgabe gewissenhaft, gespeist aus jahrelanger Erfahrung: „Dazu gekommen bin ich über den langjährigen Streckenchef Dieter Bremer, der wie ich in Darmstadt wohnt. Ich bin schon seit Ewigkeiten dabei.“

 

In kurzem Abstand auf Josefs Fahrzeug folgen übrigens die Wagen mit den „echten“ Besen: Die Putzkolonne befreit die Straßen von Getränkebechern und anderem Müll. Anschließend wird die Strecke von der Polizei wieder für den Verkehr freigegeben.

Kurz vor der Halbmarathonmarke ist bei Josef trotz des Wetter­umschwungs „nix los“: Noch niemand ist zugestiegen, lediglich ein paar Staffelläufer sind in Sichtweite. „Das macht aber wenig aus“, weiß Josef. „Da wird gleich gewechselt, dann geht es die nächsten Kilometer wieder schneller voran.“ Da ist sie wieder, Josefs Gelassenheit. Er wirft einen Blick auf seinen Fahrplan, ­kontrolliert die Uhr, grüßt ein paar Helfer an einer Getränke­s­tation. Bis sein Arbeitstag gegen 17 Uhr an der Festhalle endet, hat er noch ein paar Stunden Autofahrt durch Frankfurt vor sich.