19. Dezember 2022 | Marathon-News

Auf die Straßen, fertig, los! | Marathonpredigt zu Apostelgeschichte 8, 26-39

Als der Wecker klingelt, ist es noch dunkel. Müde reckt und streckt er sich. Was für intensive Erlebnisse und Begegnungen in den vergangenen Tagen hier in Frankfurt, besonders gestern beim Höhepunkt, dem Lauf. Den ganzen Tag war er auf den Straßen unterwegs, die lange Strecke durch die verschiedenen Stadtviertel. Kurze Smalltalks am Start. Sitzt das Laufshirt? Unterwegs bei tollem Wetter, ein wenig windig vielleicht. Immer ein Blick auf die Uhr, in sich hineinhören. Dann wieder eine Band, die musiziert, aufmunternde Worte von den Zuschauenden an der Strecke. Die letzten Kilometer ziehen sich – und dann der Einlauf in die Alte Messe, noch einmal Adrenalin pur, Ziellinie. Erleichterung, Freude, einfach total happy… ein Weizenbier, die Medaille. Umarmungen, Abklatschen, lachende und müde Gesichter… Runterkommen.  dann eine heiße Dusche im Hotel.

Ganz ähnlich geht es dem Kämmerer, von dem wir vorhin gehört haben. Nur dass er nicht bei einem Marathon gestartet ist, sondern ein Intensiv-Wochenende in Sachen Religion hinter sich hat. Auch er hat tolle Erlebnisse und Begegnungen in den vergangenen Tagen in Jerusalem, im Tempel. Auch er hatte sich gut vorbereitet auf diesen Besuch, hatte sich informiert, nach den Regeln erkundigt, einen Gebetsschal gekauft. Die Frömmigkeit der Menschen hat ihn beeindruckt. „Wie geht es weiter für mich?“ Fragt er sich.

 

Und der Kämmerer weiß: es wird eine anstrengende Rückreise. Die will er nutzen! Er hat sich in Jerusalem am Tempel eine Schriftrolle mit den Texten des Propheten Jesaja gekauft. Sie liegt schon im Wagen.

 

Das Frühstück ist zubereitet, die Kleidung liegt auf dem Stuhl. So wie es sich für einen mächtigen und reichen Mann seiner Zeit gehört: den Kämmerer der äthiopischen Königin. Als Kämmerer hat er viel Verantwortung. Fehler dürfen nicht passieren. Und damit die Versuchung mit dem vielen Geld, dass er zu verwalten hat, nicht zu groß wird, ist der Amtsinhaber ein Verschnittener, also einer, der keine Kinder zeugen kann. „Er ist Eunuch“, so sagen die Leute.

Was er besitzt und verdient, seinen Wohlstand, muss er also Zeit seines Lebens ausgeben.

Die Leidenschaften des Kämmerers sind Bücher und das Thema Religion. Zuhause hat er schon eine große Bibliothek. Nun kommt der Jesaja-Text dazu.

Unterwegs zu lesen, auf den langen Strecken zwischen den Terminen, das hat sich der Kämmerer schon seit einiger Zeit angewöhnt. Und die Leidenschaft, seine Neugier, hatten ihn auch nach Jerusalem geführt, von wo er jetzt aufbricht. Mit ganz viel Erfahrung im Gepäck und diesem neuen Text.

 

Blickwechsel.

Auf die Straße, fertig und los…!

 

Unser Motto für den diesjährigen Marathon in Frankfurt passt sehr gut zu dieser Geschichte. Das gesellschaftliche, das politische Leben und natürlich das sportliche Leben findet auf der Straße statt: Laufen und Spazieren, der Weg zur Arbeit und zu Freunden oder in den Urlaub, das Essen im Restaurant, aber auch: Demonstrationen, Kundgebungen, und ja, jetzt auch der Krieg.

 

Das wissen wir, das weiß auch der Finanzminister, der Politiker, der Sinnsucher. Wir trauen uns auf die Straße…

 

Auf der Straße sind wir als Läuferinnen und Läufer beim Marathon in Frankfurt. Dabei ist das Unterwegssein, der Lauf noch viel mehr als die Strecke morgen. Da ist die Vorbereitung und die Anstrengung, das, was ich mitnehme. Da ist die Gemeinschaft und die Begegnung unterwegs, die Unterstützung an der Strecke, die helfenden Hände links und rechts, die Musiker und Getränkereicher. Da ist der Spaß und auch die Demonstration des Willens und für einen guten Zweck. Deshalb gehen u.a. auch die vier interreligiöse Staffeln auf die Straße und laufen wie in Jahren zuvor wieder für Frieden und Verständigung.

 

Interreligiös ist auch die Begegnung auf der Strecke von Jerusalem nach Äthiopien zwischen dem Kämmerer und Philippus, einer der ersten christlichen Diakone aus der Jerusalemer Gemeinde. Die beiden kennen sich nicht – und sind vermutlich jeder auf seine Weise ziemlich überrascht über das Zusammentreffen.

 

Der erste Wortwechsel ist auch eher zum Schmunzeln. Aber sie kommen gleich zum Punkt: „Verstehst Du eigentlich, was du liest?“ – „Nö, eigentlich nicht – aber wenn mir auch keiner sagt, was das heißt…“ Und schwupps ist Philippus schon auf dem Wagen und es entspinnt sich ein intensives Gespräch über einen kleinen Text aus dem Jesaja-Buch, Kapitel 53 (6-8): In dem Text wird in umständlich-alter Ausdrucksweise etwas gesagt über jemanden, der bereit ist, sich für Andere und für etwas Gutes auf den Weg zu machen. Jesaja spricht seinen jüdischen Landsleuten Mut zu. Er spricht über die besondere Rolle, die das Volk Israel in der Welt hat: Es leidet unter der Verfolgung durch andere und ist doch auserwählt, damit die Welt mit Gott versöhnt wird.

 

Wörtlich heißt es:

Jesaja 53,6-8

 

6Wir hatten uns verirrt wie Schafe.

Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Weg.

Aber der Herr lud all unsere Schuld auf ihn.

7Er wurde misshandelt, aber er nahm es hin.

Er sagte kein einziges Wort.

Er blieb stumm wie ein Lamm,

das man zum Schlachten bringt.

Wie ein Schaf, das geschoren wird,

nahm er alles hin und sagte kein einziges Wort.

8Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt

und zur Hinrichtung geführt.

Aber wen kümmert sein Schicksal?

Er wurde abgeschnitten vom Land der Lebenden.

Weil sein Volk schuldig war, traf ihn der Tod.

 

Doch das Urteil gegen ihn wurde aufgehoben. Wer wird seine Nachkommen zählen können? Denn sein Leben wurde von der Erde weg zum Himmel emporgehoben.«

 

 

Immerhin, der Kämmerer war schon bis Kapitel 53 gekommen – wenn wir es vergleichen mit den gut 42 Kilometern vom Marathon: kilometermäßig also recht weit. Auf diese Stelle nun kann er sich noch so recht keinen Reim machen – so geht es uns ja irgendwie genauso – oder?

 

 

Oder geht es uns wie Philippus? Philippus war Jesus begegnet, dem jüdischen Lehrer und Interpret der biblischen Texte. Er hatte erfahren, wie Jesus gelebt hatte und auch wie er sterben musste. Für Philippus liegt es daher auf der Hand, wie er diesen Text von Jesaja verstehen muss: als Ankündigung des Leidens und Sterbens Jesu, als Opfer für die gesamte Menschheit. (Für Philippus ist dieser Text durch seine Begegnung mit Jesus , dem jüdischen Lehrer und Interpreten verständlich geworden. Er sieht es durch diese Brille – immerhin im Zusammenhang des jüdischen Glaubens.)

Diese exklusive Leseweise hat im Laufe der Zeit innerhalb der Kirche leider dazu geführt, dass die Jesaja-Texte christlich vereinnahmt wurden. Plötzlich galt die jüdische Leseweise des Textes nichts mehr. Alles wurde auf Jesus hin interpretiert. Die jüdische Reaktion darauf war, dass die Jesaja-Texte aus den Wochenlesungen im Gottesdienst gestrichen wurden.

 

Erst im 11. Jahrhundert, nach den Massakern an der jüdischen Bevölkerung im Zusammenhang des ersten Kreuzzuges 1096, entwickelten jüdische Theologen wie neu eine Theologie des Martyriums und zwar des jüdischen. So schrieb der Rabbiner Raschi in Bezug auf Jesaja 53: „Er litt, damit jede Nation in den Leiden Israels Sühne finden kann: die Krankheit, die uns treffen sollte, hat er getragen. Wir dachten, er sei von Gott gehasst, doch dem war nicht so. … Er wurde gezüchtigt, damit die ganze Welt Frieden hat“.

 

Bezogen auf das Gespräch zwischen Philippus und dem Kämmerer müssen wir heute bewusster wahrnehmen, dass wir immer zunächst mit der eigenen Brille auf die Dinge schauen, sie begreifen oder eben auch nicht. Wie der am Judentum interessierte Kämmerer und der Jesusnachfolger Philippus. Und dabei lernen wir immer wieder neu: die Interpretation, die absolute Wahrheit gibt es nicht. Wir müssen unsere Brille suchen und aufsetzen, ja. Aber wir dürfen die andere Perspektive genauso gelten lassen. (kann man vielleicht heute sagen:) jüdische und christliche Leseweise müssen nicht im Widerspruch stehen, wenn christlicherseits die andere Leseweise akzeptiert und der Jesaja-Text an die jüdischen Gesprächspartner im Dialog zurückgegeben wird.

 

Was der Kämmerer aus seinem Erleben in Jerusalem und auf der Straße mit zurück nach Hause nimmt, ist ja eben Beides: das Erleben des jüdischen Gebets im Tempel und der Zugang zu einem Text, der sowohl jüdisch wie auch christlich eine Perspektive dafür öffnet, wie das Leben im Einsatz für Frieden und Verständigung gelingen kann. Kein Wunder, dass er fröhlich weiterfährt. Ich stelle mir vor, wie er diese Einsicht nach Hause bringt und an andere weitergibt.

 

Und wir? Was machen wir mit diesen Einsichten?

 

Ich stelle mir vor, wie eine solche Botschaft von Befreiung nach dem Leiden, von Frieden und Verständigung wirken kann, wenn Menschen gemeinsam auf der Straße unterwegs sind. Im Dialog. Im Austausch.

 

Wenn wir Läuferinnen und Läufer unterwegs sind, dann denken wir vielleicht auch an die

Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Terror auf den Straßen unterwegs sind, wenn sie aus der Ukraine kommen, aus Syrien oder aus Afghanistan. Wir zeigen uns solidarisch.

 

Wir denken an Menschen, die für Freiheit und Menschenrechte demonstrieren auf den Straßen im Iran und leiden unter Gewalt und Verfolgung durch das Regime. Wir denken vielleicht an die Sportlerin Elnaz Rekabi, die bei den Kletter-WM ohne Kopftuch unterwegs war und damit ein Zeichen der Solidarität setzen konnte und jetzt unter Hausarrest steht.

 

Wir denken an die Arbeiter aus verschiedenen asiatischen Ländern, die unter menschenunwürdigen Bedingungen die Stadien für die WM in Katar errichtet haben. Nicht wenige fanden dabei den Tod oder wurden verletzt.

 

Auf die Straße, fertig, los…

 

Der Kämmerer kommt einige Tage später wieder zuhause an. Er hat die ganze Zeit über seine Erlebnisse in Jerusalem und über das Gespräch mit Philippus nachgedacht. Was er erfahren hat, will er nicht für sich behalten, das steht fest. In den nächsten Tagen spricht er mit seinen Freunden und Kollegen, auch der Königin seines Landes erzählt er davon. Er nutzt seine Stellung, um die Botschaft von Versöhnung und Verständigung zu vermitteln, zuhause, unterwegs, auf der Straße…

 

Amen

Auf die Straßen, fertig, los...