16. Januar 2023 | Marathon-News

Auf der Marathonstrecke aus der Sucht

Der Lauf der Fleckenbühler-Jungs führt sie weit über das Staffel-Ziel in der Festhalle hinaus

 

„Marathon“ ist ein Begriff, der so oft wie kein anderer als Metapher herhalten muss, wenn Menschen eine Leistung vollbringen, die mit sehr großer Ausdauer verbunden ist. Selbst wenn Laufen dabei keine Rolle spielt, erzeugt das Wort doch immer ein Bild von besonderer Hartnäckigkeit und eisernem Willen, nicht aufzugeben. Und so würde auch bei den Fleckenbühlern kaum ein Begriff besser passen, um zu beschreiben, was jedes Mitglied auf den Höfen der Selbsthilfeorganisation für Suchtkranke auf sich nimmt: Ein langer, an vielen Stellen mühseliger Weg aus der Sucht – ein Marathon eben. „Es schaffen auch nicht alle“, räumt Alex ein. Er selbst lebt seit zwei Jahren im Frankfurter Haus der Fleckenbühler und berichtet von der hohen Fluktuation unter den Mitbewohnern: „Wir haben viele, die nicht durchhalten und uns schon nach einigen Tagen wieder verlassen. Unser Selbstverständnis ist ein kompromisslos suchtfreies Leben. Jeder, der dagegen verstößt, muss gehen.“ Das klingt hart, ist aber Teil der Fleckenbühler Philosophie. „Innerhalb von 24 Stunden darf man wieder zurückkommen. Dann beginnt der- oder diejenige unser Programm allerdings wieder ganz von vorne. Die ersten acht Tage darf man gar nicht raus. Es gilt außerdem für sechs Monate ein striktes Kontaktverbot zum alten Umfeld, wobei es Ausnahmen gibt. Eltern dürfen zum Beispiel nach einer Zeit Briefkontakt zu ihren Kindern aufnehmen.“ Die Fleckenbühler sind dabei im Alltag vollkommen autark und selbstorganisiert, begleiten sich also gegenseitig im kalten Entzug. Dabei spielt die Unterstützung durch die Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Zum Beispiel mithilfe von Sport. „Besonders das Laufen nimmt einen wichtigen Stellenwert bei uns ein: Wir trainieren einmal pro Woche gemeinsam und starten bei Wettkämpfen in der Region“, erzählt Alex. Allerdings unter besonderen Vorsichtsbedingungen: „Auch wenn das eigentlich total paradox ist, sind Suchtmittel wie Alkohol bei Sportevents sehr leicht und oft sogar gratis zugänglich“, erklärt er. Bei Süchtigen auf Entzug ist sogar das im Ausdauersport eigentlich sehr beliebte alkoholfreie Bier verpönt, weil es immer einen minimalen Restanteil Alkohol enthält. „Einfach Zugreifen wäre auch hier ein Verstoß gegen unsere Regeln.“ Vorher hautsächlich als Begleiter seiner Mitbewohner bei Laufevents unterwegs, hat Alex aber bald selbst Feuer gefangen. „Früher war ich noch nicht so fit. Meine jüngeren Mitbewohner, die zum Lauftraining noch nicht allein raus dürfen, haben mich ganz schön getriezt – da hat es mich irgendwann Auf der Marathonstrecke aus der Sucht gepackt“, erzählt er. So ist er in diesem Jahr erstmals Teil der Fleckenbühler Marathon-Staffeln. Im Ziel liegt er sich zusammen mit seinen Teamkollegen Ali, Lukas und Daniel erschöpft, aber freudestrahlend in den Armen. Trotz Verletzungspech im Vorfeld hat alles geklappt. „Ich habe vor ein paar Wochen beim Zehn-Freunde-Triathlon teilgenommen und mich dabei verletzt“, berichtet Daniel, „aber ich lasse meine Jungs doch nicht hängen, auch wenn’s mal wehtut.“ Man merkt schnell, dass Daniel bei den Fleckenbühlern ein echtes Zuhause gefunden hat, in dem er sich wohlfühlt. „Ich bin damals über den Paragrafen in das Frankfurter Haus gekommen“, berichtet er, „Ich durfte mich nach einiger Zeit im Gefängnis zwischen Therapie und weiterer Haft entscheiden. Der Entschluss für die Therapie und damit der Einzug bei den Fleckenbühlern war das Beste, was mir passieren konnte. Mittlerweile dürfte ich sogar ausziehen, meine Strafe ist verbüßt. Ich bleibe aber trotzdem, da ich mir zwar zutraue, draußen zu leben und clean zu bleiben. Aber wer weiß, was passiert, wenn irgendetwas schiefläuft. Vielleicht rutsche ich dann wieder in meine Drogen[1]sucht ab und das möchte ich auf keinen Fall. Meiner Tochter zuliebe.“ Diese ist nun acht Jahre alt und hatte vor Daniels Zeit bei den Fleckenbühlern so gut wie keinen Kontakt zum Vater. „Heute kann ich sie regelmäßig treffen und endlich eine Vorbildrolle einnehmen. Der Staffel-Erfolg heute war für mich wieder ein schöner Beweis, dass ich eine Sache durchziehen kann.“ Die intensivste Vorbereitung im Team hat dagegen Lukas auf sich genommen: Ursprünglich wollte der 24-Jährige die volle Marathondistanz bewältigen und hat hart darauf trainiert. Trotz der Ausbildung, die er im Rahmen seines Entzugsprogramms absolviert. „Ich mache Transporte und Umzüge, das fordert mich körperlich sehr. Wenn man dann nach Feierabend noch eine Stunde trainiert, ist man ziemlich froh, ins Bett zu fallen. Aber das erste Ziel ist für mich immer der Ehrgeiz, etwas schaffen zu wollen. Die Herausforderung motiviert mich“, sagt er. Letzten Endes musste Lukas sein Marathon-Debüt verschieben. Doch auch für ihn ist der Teamerfolg wichtiger als sein persönlicher. Was für die Fleckenbühler am meisten zählt, ist: der gemeinsame Weg. Und aufgeschoben ist nicht aufgehoben. „Aktuell überlegen wir schon, ob wir im Gegenzug nächstes Jahr mit Lukas die volle Distanz laufen“, sagt Alex schmunzelnd. Mit Marathons kennen sich die Jungs schließlich aus. Sie befinden sich schließlich alle auf dem Langstreckenlauf ihres Lebens – gegen die Sucht.

Auf der Marathonstrecke aus der Sucht