26. September 2016 | Marathon-News

Erststarter Patrick Raguse: „Ich möchte von mir sagen können: ‚Vom Pflegefall zum Leistungssportler‘“

„Der Fall ins Bodenlose“ heißt das Buchkapitel, in dem Patrick Raguse seinen Schicksalsschlag reflektiert. Es geschah vor sechs Jahren, in seiner drittletzten Fahrstunde auf dem Weg zum Moped-Führerschein. Er flog aus einer Linkskurve, stürzte schwer – sechs Wochen Wachkoma. Geistig schwerbehindert und kognitiv teilleistungsgestört, lautet die Bezeichnung seiner Einschränkungen. Wenn der 22-Jährige mit seiner bewegten und bewegenden Geschichte am 25. Oktober in Frankfurt an der Startlinie steht, wird er zurückdenken an die schwerste Zeit in seinem jungen Leben. Und daran, wie er sie gemeistert hat. Sein Start bei einem Marathon ist das wohl stärkste Zeichen dafür, dass er all die ärztlichen Prognosen widerlegt hat. Er werde nie mehr rennen können, kaum mehr reden können und immer auf den Rollstuhl angewiesen sein, eröffneten die Ärzte dem damals 17-Jährigen. „Das wollen wir mal sehen“, sagte sich Raguse. Sein Kampfgeist war erwacht. Der Schwabe stürzte sich mit Feuereifer in die Reha, lernte das Sprechen neu, schaffte die Mittlere Reife und bestand sogar das Abitur. „Und das mit meinem Hirn“, sagt Raguse schmunzelnd. „Ich habe fast kein Kurzzeitgedächtnis, da fällt wie ein Sieb alles durch.“ Doch er bürdete sich auch körperlich hohe Hürden auf. Ein einschneidendes Ereignis war, als er auf dem Gymnasium von seiner Psychologin vom Sportunterricht befreit wurde, weil er ja eh keinen Cooper-Test (12 Minuten Laufen) absolvieren könnte. „Niemand kann mir verbieten, Sport zu machen“, sagte sich Raguse, der vor seinem Unfall Leistungsschwimmer war, aber „mit Laufen nicht viel am Hut hatte“. Im heimischen Reichenbach an der Fils unternahm er die ersten Dauerlaufversuche. Es kam der Punkt, an dem ihm die Beine den Dienst versagten, an dem die Signale aus dem Kopf nicht mehr bei seinen Füßen ankamen. Drei, vier Male sei dies so gekommen, dass plötzlich buchstäblich nichts mehr ging. Er ließ sich nicht entmutigen, machte beharrlich weiter – und seit zwei Jahren gehorchen ihm die Beine vollends. Und er läuft und läuft und läuft. Er schrieb ein Buch mit dem Titel „Plötzlich war alles anders“, in dem er die tiefgreifenden Erlebnisse und seinen langen Weg der Jahre 2009 bis 2014 schildert. Für sich selbst und „auch als Motivationsstütze für Menschen, die ein ähnliches Schicksal durchleben müssen“, sagt er. „Ich habe gelernt, mit meinen Defiziten zu leben.“ Dass es schon mal länger dauern kann, bis er einen Hemdknopf zukriegt zum Beispiel. Im vergangenen Jahr absolvierte er seinen ersten Halbmarathon, einige weitere folgten. Doch mindestens so groß wie seine Lauflust ist seine nach dem Unfall entbrannte Leidenschaft fürs Mountainbikefahren. Vor kurzem befand Raguse sich auf einer fünfwöchigen Tour durch ganz Deutschland. 3400 Kilometer bewältigte er. Er durchquerte schwimmend den Bodensee (12 Kilometer), bei einem 24-Stunden-Schwimmen schaffte er 26,3 Kilometer. Von Sommer an will er eine Ausbildung zum Fachangestellten für Bäderbetriebe machen. Und im Herbst am Main seinen ersten Marathon bewältigen. „Ich habe großen Respekt vor der Distanz und werde höllisch nervös sein“, sagt Raguse. Am 25. Oktober, so der 22-Jährige, könne er vielleicht endgültig von sich sagen, dass er es geschafft hat: „Vom Pflegefall zum Leistungssportler.“

Erststarter Patrick Raguse